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Freitag, 30. November 2012

Geschichte aus dem Buch Kalypso von Luisa Francia (S.40 bis 43)

Beim nächsten Vollmond machte ich einen Spaziergang durch den Wald. Die freien Lichtungen sind von mildweißem Licht bestrahlt, doch durch die dichten Äste dringt wenig Helligkeit. Zuerst gehe ich sehr unsicher, bleibe bei jedem Geräusch wie gelähmt stehen und stolpere oft. Ich fange den gutmütigen Spott der Bäume auf. Sie beobachten mich. Nie ist mir zu Bewußtsein gekommen, dass dich auf jedem Waldspaziergang tausende von Bäumen wahrnehmen.
Es verunsichert mich, dass sie so ruhig stehen können, während ich mich ständig bewegen muss. Ich versuche, meinen Herzschlag und meine Schwingungen in Einklang mit den Bäumen und Büschen um mich herum zu bringen.
"Schau mit den Füßen", sagen sie. Ich ziehe die Schuhe aus. Meine Fußsohlen tasten sich über Zweige, über Laub und Moos, über Dornen.Ich muss mich niedersetzen, weil die Dornen meine Sohlen verletzen. Ich konzentriere alle meine Sinne auf meine Umgebung, strecke meine Fühler aus, öffne meinen Radarfächer nach allen Seiten. Ich beginne mit der Haut zu sehen. Mein Gehirn arbeitet fieberhaft, um all die neuen Eindrücke zu erfassen.
"Hab Vertrauen", höre ich die Bäume. Ich gehe wieder los, strecke mich dem nächsten Strauch entgegen, fühle seine Anwesenheit, weiche ihm aus, strecke meine Füße dem Boden entgegen, bei jedem Schritt. Fühle die Stacheln, noch ehe sie mich berühren, setze den Fuß vorsichtig daneben. Ein mühsamer Lernprozeß. Ich beginne zu ahnen, wo Äste liegen, wo kleine Tiere im modrigen Boden kriechen. Immer schneller kann ich gehen, ohne zu stolpern, ohne hinzufallen. Wie mit Flügeln berühre ich leicht die Baumstämme um mich herum, erfühle sie, fliege durch sie hindurch, lache und tanze. Als ich schlieslich doch falle, fängt mich ein dicker Ast vor dem kalten Bach auf.
Ich lege mich flach auf den Bauch und vertiefe mich mit meinen Sinnen in ein Buchenblatt. Gehe den Weg der feinen Adern zum Stiel in der Mitte, taste mich weiter bis zur Buche und schlüpfe in sie hinein. Ich grabe meine Wurzeln tief in die Erde hinein und fühle den Saft aufströmen, durch meinen Stamm in die Äste und Zweige.
Prickelnd dehnt die Energie der Erde sich aus bin in meine feinsten Zweige und Blätter. Ich fühle bis in die Ränder der äußersten Spitzen, wiege mich, wispere mit den anderen Bäumen, neige mich der Esche neben mir zu und berühre sie leicht mit meinen vielen Armen.
Ich stehe ruhig und fest, alle Gedanken fließen fort. Ich bin ein Baum und träume mit allen den uralten Traum von Tod und Wiederkehr. Auf meinen Ästen lassen sich Vögel nieder und singen mir so schöne Lieder, dass ich zittere und meine Blätter leise knistern.
Als die Sonne aufsteigt, fühle ich den Saft zurückfließen in den sicheren Schoß der Erde, die ihn bewahrt und mich nährt. Ich wiege mich froh im Wind.
Jemand reißt mir einen Ast ab. Der Moment des Schmerzes breitet sich wie ein lautloser Schrei in meinen Adern aus. Die anderen Bäume beginnen zu rauschen. Der Riß setzt sich fort ins Fühlen aller Zellen. Die Erde schickt ihre Kraft, um meine Verletzung zu heilen. Der Schmerz verebbt, bleibt eine unruhige Erinnerung in jedem Teil meines Baumkörpers. Auf einer Astgabel hoch über meinem Körper läßt sich die Eule nieder.
"Du mußt fort. Geh zurück in deinen Körper. Geh schnell, sonst erinnerst du dich nicht mehr an deine Welt und kannst dich nicht mehr genug danach sehnen, um dich wieder zu verwandeln."
Ich habe keine Lust, meinen unsteten menschlichen Körperanzunehmen, aber die Eule läßt mir keine Ruhe, wetzt ihre Krallen an mir und zwickt mich.
"Fort mit dir. Es gibt keine wirkliche Reise ohne Rückkehr."
Unwillig ziehe ich mein Bewußtsein aus dem Körper des Baumes, ziehe mich zurück in den Stamm, immer verfolgt von den Schnabelhieben der Eule, schlüpfe aus dem Stamm zurück in meinen Körper.
Dort liege ich auf dem taufeuchten Gras. Vor Kälte klappern meine Zähne.
Benommen sammle ich Zweige, berühre die Buche dankbar mit beiden Händen und küsse sie.
Dann entzünde ich ein Feuer und wärme mich daran. Ich lege Steine hinein und heize sie im lodernden und im glühenden Feuer auf. Als das Feuer nur noch glimmt, hole ich mit einer starken Astgabeldie Steine heraus, tropfe Wasser darüber und bedecke mich und die dampfenden Steine mit einer Zeltleinwand. Ich schwitze alle meine Ängste und Vergiftungen aus mir heraus. Ich singe ein selbsterdachtes Lied für die Buche. Aus allen Poren läuft Wasser aus mir heraus. Ich springe in den eiskalten Bach.

Auf dem Rückweg zu meinem Auto höre ich die Bäume flüstern. Diesmal fühle ich mich nicht bedroht. Ich berühre einige Stämme in meiner Nähe. Sie fühlen sich warm und lebendig an. Ich weiß, dass ich gesehen werde, gehört werde, gefühlt werde. Ich werde getragen.

Ich habe diese Geschichte gestern im Buch gelesen und sie so schön gefunden.

1 Kommentar:

  1. Ich glaube, ich sollte das Buch mal wieder in die Hand nehmen. Irgendwann hat Luisa geschrieben, dass ihre ersten Bücher nicht verstanden wurden.
    Kann ich nicht behaupten.

    Beste Grüße
    Oona

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